Gänsegeier

Gänsegeier sind spezialisierte Aasfresser, die in Gruppen auch grosse Kadaver schnell entsorgen können. Giftköder, die gegen Grossraubtiere eingesetzt wurden, haben im 20. Jahrhundert in vielen europäischen Regionen zum Aussterben dieser geselligen Koloniebrütern geführt. Heute sind sie dank intensiver Schutzbemühungen von allen Geierarten in Europa die Art, die am weitesten verbreitet ist. In der Schweiz brüten Gänsegeier zwar nicht, sie sind aber als Gäste immer häufiger zu beobachten.

Hilfreicher Entsorger

Der Gänsegeier war im südlichen Europa ein ursprünglich weit verbreiteter und häufiger Brutvogel. In prähistorischen Zeiten ernährte er sich fast ausschliesslich von den Kadavern grosser Wildtiere. Als die Menschen sesshaft wurden und begannen Weidevieh zu halten, wurden verendete Nutztiere eine immer wichtigere Nahrungsquelle für der Gänsegeier. Damit halfen sie den Menschen, sich der toten Tiere einfach zu entledigen. Bis in die 1990er Jahre war es beispielsweise in vielen Regionen Spaniens üblich, in der Nähe von Dörfern Entsorgungsplätze für Kadaver einzurichten.

Spezialist für grosse Kadaver

Als typische Vertreter der Geier leben Gänsegeier sozial und brüten in Kolonien und sind hochspezialisierte Aasfresser. Ihre Anatomie und Physiologie sowie ihr Verhalten sind darauf ausgerichtet, Kadaver zu verwerten. In ihrer äusseren Gestalt sind sie gut an diese Ernährungsweise angepasst. Mit dem langen Hals können sie leicht in die Bauchhöhle von Kadavern und den inneren Organen vordringen. Und da der Kopf kaum befiedert ist, verschmutzt er nicht. 

Die breiten Flügel erlauben den Gänsegeiern mit sehr geringem Energieaufwand ausdauernd in der Thermik zu kreisen und grosse Gebiete nach Nahrung abzusuchen. Dabei achten sie stets auf andere Geier und weitere Aasfresser wie beispielsweise Kolkraben. Denn wo diese landen, liegt möglicherweise ein verendetes Tier. Bei einem Kadaver können sich so innert kurzer Zeit grosse Gruppen bilden, die sich um das Futter balgen und wenig später nur noch das Skelett übriglassen. Die Geier können bei ergiebigen Futterquellen jeweils grosse Nahrungsmengen aufnehmen. Damit bauen sie Fettdepots auf, die ihnen ermöglichen, Hungerperioden von mehreren Wochen zu überdauern.

Vergiftete Köder führten vielerorts zum Aussterben

Im 19. Jahrhundert und noch stärker im 20. Jahrhundert kamen die Gänsegeier immer mehr unter Druck. Besonders fatal für die Gänsegeier war, dass die Menschen Grossraubtiere zunehmend mit Giftködern bekämpften, auch mit dem Ziel diese auszurotten. Obwohl Gänsegeier gar nicht das Ziel der Vergiftungen waren, litten sie besonders unter diesen Aktionen. Denn ein Kadaver lockt meist sehr viele Gänsegeier an. Ist der Kadaver vergiftet, führt dies daher oftmals zum Tod von Dutzenden von Individuen. Zusammen mit weiteren Faktoren führte diese tierquälerische Praxis dazu, dass Gänsegeier im Verlauf des 20. Jahrhunderts aus weiten Teilen Europas weitgehend oder ganz verschwanden. Einzig in Spanien konnten sich etwas grössere Restbestände halten.

Gänsegeier im Aufwind

Dank intensiver Schutzbemühungen sind die Gänsegeierpopulationen in den letzten Jahrzehnten in einigen Regionen wieder stark gewachsen, insbesondere in Spanien, Frankreich und Portugal. In Europa schätzt man die Population auf rund 35'000 bis 40’000 Brutpaare. Von diesen leben rund 25'000 Brutpaare auf der Iberischen Halbinsel. Fast 3'000 Brutpaare leben in Frankreich und knapp 300 in Italien. Die östliche Population der Gänsegeier in Europa zählt etwa 1'000 Paare und konzentriert sich auf Griechenland, Bulgarien, Serbien und Kroatien (Vulture Conservation Foundation 2022). 

Gänsegeier in der Schweiz

In der Schweiz sind aus historischer Zeit keine Bruten bekannt. Hingegen sind Nachweise von herumstreifenden Gänsegeiern seit dem Mittelalter belegt. Somit ist sein Auftreten hierzulande kein neues Phänomen. Gab es in der Periode von 1900 bis 1999 nur einzelne Beobachtungen, sind Gänsegeier seit 2000 alljährliche Gäste bei uns. 2005 waren es bereits 123 Individuen, die aus Frankreich hierher flogen. Seither nahmen die Beobachtungen stetig zu und ab 2017 stiegen die Zahlen nochmals an. Mittlerweile werden auf der Meldeplattform ornitho.ch jährlich rund 1'000 bis 2'000 Beobachtungen von Gänsegeier in der Schweiz gemeldet (Stand 2022). Die Anzahl Gänsegeier in der Schweiz hängt stark von der Bestandsentwicklung in Südeuropa ab, insbesondere von Frankreich, wo in den letzten Jahren die Population stark zunahm.

Ein sommerlicher Nahrungsgast

Der Gänsegeier besucht die Schweiz als Nahrungsgast. Sein Auftreten beschränkt sich auf die Zeit von April bis Oktober. Es handelt sich dabei meist um Jungvögel und noch nicht geschlechtsreife Tiere, die über sehr weite Distanzen herumstreifen. Zuweilen tauchen adulte Gänsegeier auf, die nicht brüten oder die ihre Brut früh verloren haben. Sie unterscheiden sich durch die weisse Halskrause von den Jungtieren.

Gänsegeier sind keine Jäger

Der Flug von Gänsegeiern mutet eher träge an. Die Krallen sind stumpf und damit nicht geeignet, Tiere zu erbeuten. In seltenen Fällen kann es dennoch vorkommen, dass Gänsegeier Tiere angreifen, die noch leben, zum Beispiel frisch geborene Jungtiere, die nicht verteidigt werden, oder stark erkrankte und verunfallte Tieren. Diese Tiere hätten ohnehin kaum Überlebenschancen. Wie Untersuchungen aus Spanien und Frankreich zeigen, sind solche Vorfälle auch in Regionen, wo Gänsegeier häufig sind, äusserst selten. Oftmals werden solche Situationen zudem falsch interpretiert. Da Gänsegeier die Umgebung mit ihren scharfen Augen stets intensiv nach Nahrung absuchen, können sie sich nach dem Tod eines Tieres sehr schnell und in grosser Zahl beim Kadaver einfinden und diesen in kürzester Zeit vertilgen. 

Steckbrief Gänsegeier

 

Lateinischer Name Gyps fulvus
andere Sprachen Englisch: Griffon Vulture; Französisch: Vautour Fauve; Spanisch: Buitre Leonado; Portugisisch: Grifo; Italienisch: Grifone
IUCN Status Rote Liste Nicht gefährdet
Brutpaare 35'438-41'984 Brutpaare in Europa (details s. hier>>)
Wildbestand 80'000-90'000 erwachsene Tiere (BirdLife International 2021)
Verbreitung Portugal, Spanien, Frankreich, Italien, Kroatien, Serbien, Bulgarien, Nord Mazedonien, Griechenland
Grösse 95-110 cm
Flügelspannweite 2.4-2.8 Meter
Gewicht 6-11 kg
Nahrung Aas von mittelgrossen oder grossen Säugetierkadavern (Huftiere, Nutztiere). 
Lebenserwartung Bis zu 37 Jahren in Gefangenschaft

Weiterführende Informationen

  • Präsentation des Amt für Jagd- und Fischerei des Kanton Graubündens: Videovortrag>>